Im Oktober 1970 erschien ein sehr interessanter Zeitzeugenbericht in dem „Schleswiger Monatsheft“ über das damalige Landeskrankenhaus auf dem Stadtfeld anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der Anstalt. Der Handwerker Hans Martensen schilderte seine Erfahrungen und Erlebnisse, die er seit seinen Dienstantritt im Jahr 1919 gemacht hatte.
Ich habe diesen Bericht unverändert übernommen und ihn mit Fotos aus meinem Archiv ergänzt.
Ein Leben für die Anstalt
Erinnerungen eines Handwerkers – von Hans Martensen
Am 2.Januar 1919 begann meine Tätigkeit als Maurer beim Landeskrankenhaus, damals noch Provinzial-Irrenanstalt, später Heil- und Pflegeanstalt genannt. Vier Jahre Weltkrieg lagen hinter uns und hatten uns dem erlernten Beruf entfremdet. Mein Mitarbeiter und Vorbild war der frühere Maurerpolier Klaus Klinker gewesen. Inzwischen konnte ich besser mit dem Gewehr, als mit der Kelle umgehen. In der Werkstatt des Krankenhauses fand ich nun meinen ersten Meister wieder.
Die Maurerwerkstatt war in einer kleinen Hütte hinter dem Eisberg untergebracht. Dieser Eisberg bestand aus einer Aufschüttung von Erdmassen über dem Eiskeller, in dem damals das Eis vom Mühlenteich untergebracht war. Auf dem ansehnlichen Hügel wuchs eine Weide und am Fuße standen schöne Kastanienbäume im Kreise. Später wurde der Teich nicht mehr abgeeist, sondern das Eis von einem Eisgerüst gewonnen. Mit dem Fortschritt der Kühltechnik verschwand auch „unser Berg“.
Meine erste Arbeit begann in der Küche. Zur Frischhaltung der Milch sollte ein Bassin gebaut werden. Ich war damals 23 Jahre alt und die Devise „Gliek um gliek gesellt sik gern“ sowie die bewährte Erfahrung, dass viele Angehörige des Krankenhauses ihren Ehepartner hier gefunden hatten, bestätigte sich auch bei mir. Gern „schielte“ ich nach dem fleißigen Küchenmädchen, die sich, wie mir schien, auch gern in meiner Nähe aufhielten. Noch war ich schüchtern und vom Kriegserleben und Entsagen geprägt. Doch bei einem Tanzabend im „Hohenzollern“ nahm ich allen Mut zusammen und forderte „meinen stillen Schwarm“ zum Tanzen auf. Damals war die Freiheit der Mädchen sehr beschränkt. Der Nachtwächter hatte die
Aufgabe, die Mädchen zu kontrollieren und sie bei Versäumnissen in ein Buch einzutragen. Ein spätes Lob für den Nachtwächter Fiete Juhl! Oft kam er eine Stunde zu spät zur Haustür und fragte scheinheilig: „Wat? Wött Ji all to Bett? Töf man noch’n beeten…“ Nach einer Stunde kam er zurück und meinte: „Nu ward dat Tied, dat die lütten Deerns to Bett kaamen. Mörgen is wedder fröh Dach.“ Die Mädchen zogen ihre Schuhe aus und huschten an den Zimmern der Oberinnen vorbei.
Später begann die Arbeit in den einzelnen Abteilungen, die der Meister und ich uns teilten. Ein Inspektor gab die Zustimmung zu den anfallenden Arbeiten,die von den Stationspflegern gemeldet wurden. Ein Oberpfleger holte täglich den Tagesplan ab. Die Methoden waren recht umständlich. – Die Abteilungen waren damals längst nicht so hell und freundlich wie heute.
Zuerst betrat ich die Häuser mit etwas Grauen. Bald hatte ich mich an die traurigen Bilder gewöhnt. An die Wachsäle, wo die Patienten wochen- und monatelang in den Betten liegen mussten, an die Badestuben, wo sie stundenlang mit Dauerbäder behandelt wurden, an die Tagesräume, wo sie vor sich hindösten oder auch randalierten.
Auf den schweren Stationen befanden sich noch Zellen ohne Möbel. Nur eine Matratze lag auf dem Fußboden. Hier wurden die unruhigen Patienten von ihrem Wahn gepeinigt, tobten und mussten eingesperrt leben. Das Dasein hinter Gittern an Fenstern und Türen und die von hohen Planken umgebenen Spazierhöfe trugen gewiss nicht zur Heilung der Patienten bei.
Mit der Zeit nahmen die Behandlungen sichtbar fortschrittlichere Formen an. Die Räume der Abteilungen waren im Anfang weiß und wurden in jedem Frühjahr übergekalkt. Dazu mussten wir im Herbst schon einlöschen und hatten bis in den Sommer hinein zu tun. Dann kamen die Öfen an die Reihe, bevor der Herbst und die neue Heizperiode einsetzten.
Nur die neueren Häuser hatten Zentralheizung. Das Hauptmännerhaus, heute Verwaltungsgebäude, die Häuser 11 und 12, 9 und 10, das Frauenhaus und das Frauennebenhaus, jetzt Med. Abt., waren nur mit Öfen ausgerüstet in fast allen Räumen. Das war eine umfassende Arbeit.
Dazu kamen ca. 60 Wohnungen. Im alten Kesselhaus mussten damals noch alle drei Kessel alle drei Monate erneuert werden, das hieß, sich bei Teufelstemperaturen in die Feuerungstür hineinzwängen und ungefähr 250 feuerfeste Steine neu einzumauern.
1920, im Jahre des 100 jährigen Bestehens der Anstalt, wurde ein Stein beim Eingang des Anstaltsgeländes gesetzt, zu dem wir das Fundament herstellten. Anläßlich des Jubiläums wurde im Stadttheater ein Bazar abgehalten. Das Fest hielt mehrere Tage an. Auf der Bühne fanden verschiedene Aufführungen statt und ich hatte das Vergnügen, in einer Turnerriege mitzuwirken.
Die Jahre flogen schnell dahin. Aus den gekalkten Räumen wurden farbig gestrichene oder tapezierte. Nach und nach wurden auch die Häuser mit Zentralheizung versehen. Jetzt hatten wir Handwerker Zeit, dem Bauamt bei Um- und Verbesserungsarbeiten zu helfen. Die Behandlungsweise führte dazu, dass die Tobsuchtsanfälle zurückgingen, auch die hohen Planken verschwanden und ein freier Blick entstand. Bis zum Jahr 1933 verlief eigentlich alles in harmonischen Bahnen. Dann kamen die Jahre der Unruhe.
Große und kleine Führer traten ins Rampenlicht, – auch bei uns im Krankenhausbetrieb. Vor allem in staatlichen Betrieben war es ja möglich, unliebsame Zeitgenossen auszubooten, indem man ihnen politische Vergehen anhing. Mir ging es, wie etlichen anderen.
Ich wurde zum damaligen Direktor befohlen, der mir ein umfassendes „Sündenregister“ vorlesen musste. Ich sei fanatischer Anhänger der SPD, hätte versucht, andere daran zu hindern, ihre Stimme der NSDAP zu geben und wäre in der Bekämpfung der Nationalsozialisten besonders hervorgetreten. Ich wusste bis dahin selbst nicht, dass ich so ein rabiater Mensch war. Aber es stand auf dem Papier. Eine Gegenüberstellung mit den „Anschwärzern“ war nicht zu erzwingen. Der Direktor bewies jedenfalls viel Loyalität und schrieb in meiner Beurteilung: „Ich glaube wohl, dass Herr Martensen für den nationalen Staat zu gewinnen ist.“ Meine Militärzeit gab wesentlichen Ausschlag. Ich blieb dem Betrieb erhalten.
Mit der Angst im Nacken ging die Arbeit weiter. Das Vertrauen untereinander hatte gelitten. Eine entscheidende Versammlung im Kasino, wo wir heute unsere fröhlichen Feste feiern, blieb mir in Erinnerung. Der Redner war der damalige Kreisführer Ramcke. er hatte in unseren Kreisen keinen guten Ruf, – aber einen großen Mund. Durch Drohungen sollten wir zur Mitgliedschaft gezwungen werden und er sagte wörtlich: „Das Parteibuch ist noch drei Tage auf. Wer dann noch nicht den Weg zu uns gefunden hat, muss die Folgen tragen, – und wenn er auf den Knien liegt und Tränen heult.“
Mein „Küchenmädchen“ von damals, nun meine Frau und ich, standen damals am Fenster unseres mühsam erworbenen Siedlungshäuschens und sahen, wie sich mehr und mehr Kollegen der Partei anschlossen. Nur vier blieben standhaft. Ich sagte: „Mutter, wenn du meinst, dass wir es nicht durchhalten, tue ich es auch, gegen meinen Willen.“ Meine schlichte Frau antwortete: „Nein Hans, wir schaffen es schon!“
1939 kam der Krieg, den wir lange vorausgesehen hatten! Am ersten Tag schon musste ich mich zur Mobilmachung stellen und kam zum Arbeitsdienst. Doch im Februar 1940 kam ich zur Anstalt zurück, wahrscheinlich als Untauglicher, weil ich im Weltkrieg ein Auge verloren hatte.
In den Kriegsjahren gingen im Anstaltsgelände viele Veränderungen vor sich. Die Patienten mussten zusammenrücken. Die Kinder vom Hesterberg kamen dazu, denn dort wurde ein Militärlazarett eingerichtet. In den Häusern R, S und der Nebenanstalt wurden Kinder untergebracht.
Nach den Bombenangriffen kam ein Teil der Kieler Klinik zu uns. Haus I wurde Nervenklinik und Haus T war eine Krankenabteilung der Kieler Nervenkliniken. Gegen Kriegsende überfiel uns der Flüchtlingsstrom. Die Kieler Verwaltung musste untergebracht werden. Wir erlebten bewusst die Euthanasiemaßnahmen. Nur wenige Kranke kehrten zurück.
Mein Kamerad Klaus Klinker war inzwischen verstorben und ich war alleinverantwortlich für alle anfallenden Arbeiten. Das Material war knapp. Aber wir kamen über die Runden. Eine gute Hilfe hatte ich in dem Patienten Anton. Er arbeitete sehr ordentlich und zum Teil sogar selbstständig, da ich auswärts tätig war. Heute wäre dieser fleißige Mann, der nach seiner Gesundung in der Anstalt verblieb, sicher einen besseren Weg gegangen. Wir mussten auch das Gut Königswill mit betreuen, das 1944 von der Regierung erworben wurde und von den auf der Ziegelei, jetzt Landesjugendheim, untergebrachten Jugendlichen bearbeitet wurde.
Der Hof war heruntergekommen, das Gebäude verfallen. Eine Hochburg der Ratten! Im Stalag (dem Gefangenenlager am Hesterberg) holte ich damals täglich vier Kriegsgefangene ab, die anstellig und arbeitsam ihren Dienst taten. Zwei Zimmerleute und ein Trupp mit dem Pfleger arbeiteten ebenfalls auf der Ziegelei. Dort schwang Frau Edens den Kochlöffel. Das war ein großes Plus für uns und manchmal auch für unsere hungrigen Familien…
Durch Manipulationen konnte eine Baufirma für uns Material auf dem Flugplatz Jagel besorgen. Im Februar 1945 rief man mich noch zum Volkssturm ein – trotz des Auges, Nachtblindheit, Leistenbruchs und eines Magenleidens. Vor Kriegsende kehrte ich freiwillig zurück. Am Krankenhaus wartete genug Arbeit. Das Frauennebenhaus war Lazarett geworden, später Med. Abt. Es kamen immer mehr Esser. Kessel, Küche und Schornsteine reichten nicht mehr aus. Während der unermüdlichen Kesselbauerei kam endlich der lang ersehnte Kriegsschluss. Die Entnazifizierungswelle begann. Nun gut. Wir waren nicht betroffen. Es begann endlich wieder ein versöhnliches, ungezwungenes Verhältnis. Ich durfte noch die Jahre miterleben, wo es nach den schrecklichen Kriegs- und Nachkriegsjahren wieder aufwärts ging. Wir alle nahmen Anteil daran, dass es nicht nur uns, sondern auch den Patienten besser ging. In Besoldungsfragen gibt es bis heute hin, über die Pensionierung hinaus, Probleme und Gruppierungen, die mit der Landesverwaltung Kiel zu tun haben und geändert werden könnten.
Durch unseren Handwerkerclub „Dröge Eck“, durch die nimmermüde Initiative Professor Dr. Döhners, durch die Altenveranstaltungen und vieles mehr, haben „Wir Alten“ den Kontakt zu unseren früheren Arbeitsplatz erhalten können. Wir nehmen Anteil an dem Geschehen im Krankenhausgelände und sind gut informiert. Wir sind glücklich über den Fortschritt in der Behandlung der Patienten und der Ausstattung der Häuser. Wir sitzen zwar auf dem Altenteil und sind doch nicht weit fort. Das bereichert unseren Lebensabend.